Gemeinsam statt einsam

Vielbeschäftigt, keine Angehörigen oder zu schüchtern: Für Einsamkeit gibt es viele Gründe. Mittel dagegen aber auch. Zum Beispiel inklusiven Sport.


Eigentlich will Sylvia Kurs ihr Zimmer heute nicht mehr verlassen. Denn seit sie von der Arbeit zurück ist, hat sie richtig schlechte Laune. Das kommt in letzter Zeit öfter vor – zum Beispiel, wenn sie sich über etwas ärgert. Dann will die Bewohnerin des Hilda Heinemann Hauses am liebsten allein sein, Musik hören und gegen den Computer Karten spielen.

Doch dann kommt Melodía Fernández Muñoz vorbei. „Wir trainieren gleich, machst du mit?“, fragt die pädagogische Fachkraft. Einmal in der Woche leitet sie ein einstündiges Bewegungsangebot an der Inklusiven Bewegungsinsel – das sind vier Sportgeräte, die im Zuge der Special Olympics World Games 2023 auf dem Außengelände der besonderen Wohnform für Menschen mit Behinderung in Farmsen-Berne aufgestellt wurden.

Zögernd folgt Sylvia ihr nach draußen. Wenig später steht die 56-Jährige auf einem Rückentrainer und dreht ihre Hüften nach links und rechts. Ihr gegenüber sitzt ihre Mitbewohnerin, die 75-jährige Inge Jakob, die ähnliche Bewegungen im Sitzen ausführt. Sylvia schaut anfangs noch etwas mürrisch, dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Pädagogin Melodía ist froh, dass sie Sylvia zum Training motivieren konnte. „Zusammen mit anderen Sport zu machen, tut einfach der Seele gut. Ich kenne das von mir selbst: Wenn ich mich einsam fühle, gehe ich ins Fitnessstudio“, sagt die 47-Jährige.

Viele Menschen sind einsam

Einsamkeit ist ein Gefühl, das viele kennen. Eine repräsentative Befragung der Bertelsmann Stiftung aus diesem Jahr zeigt etwa, dass jüngere Menschen in Deutschland davon auch nach der Pandemie noch stark betroffen sind. Demnach empfindet sich rund die Hälfte (46 Prozent) der 16- bis 30-Jährigen als einsam. Etwa 10 Prozent dieser Gruppe fühlen sich sogar stark einsam, circa 35 Prozent gaben an, moderat einsam zu sein.

Unabhängig vom Alter sind es Menschen mit Behinderung, die besonders oft von Einsamkeit betroffen sind. Und nicht nur das: Je höher der Grad der Behinderung, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Mensch sich einsam fühlt, heißt es im Einsamkeitsbarometer 2024 des Bundesfamilienministeriums.

Jennifer Schüler, die Leitung des Hilda Heinemann Hauses, bestätigt dies. „Einsamkeit ist ein Thema, das viele unserer Bewohner*innen betrifft – vor allem, wenn sie keine Angehörigen haben“, erzählt sie. „Durch das gemeinsame Training an der Bewegungsinsel wird der Zusammenhalt untereinander besser. Sonst war hier oft jeder für sich.“

Sport fördert die Gemeinschaft

Einsamkeit wirkt sich auch auf die Gesundheit aus – etwa, wenn Menschen deshalb traurig sind oder nicht gut schlafen. Dem entgegenzuwirken ist das Ziel des inklusiven Gesundheitstags „Gemeinsam gegen Einsamkeit“ am 5. November, den die Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAG) mit Unterstützung des Sozialkontors und anderen sozialen Unternehmen organisiert. Das Sozialkontor wird dort mit einem Workshop vertreten sein, bei dem es um das Training an der Inklusiven Bewegungsinsel im Hilda Heinemann Haus geht. In dem Workshop berichten unter anderem die Trainer*innen des Sozialkontors von ihren Erfahrungen mit dem Sport-Angebot – und wie es die Gemeinschaft der Teilnehmenden fördert.

Um die rund einstündigen Bewegungseinheiten zu leiten, die dreimal wöchentlich im Hilda Heinemann Haus stattfinden, gibt es eine spezielle Ausbildung. Diese haben Melodía Fernández Muñoz und ihre beiden Kollegen Tassilo Schulze und Krish Luthra absolviert. Finanziert und organisiert wird das Ganze vom Verein Brücken für Kinder e.V., der im vergangenen Jahr insgesamt fünf Inklusive Bewegungsinseln in Hamburg initiierte.

„Dass wir jetzt diese Bewegungsmöglichkeit anbieten können, ist fantastisch“, sagt Melodía, deren Training heute gut besucht ist. Vier Frauen und vier Männer im Alter von 21 bis 75 Jahren sind da und machen an den Geräten gezielte Übungen für Rücken, Schultern, Arme und Hände sowie Gleichgewicht und Geschicklichkeit. Auch Bälle werfen, Seilspringen und Krafttraining mit Fitnessbändern stehen hoch im Kurs. Die Beweggründe der Teilnehmenden sind vielfältig: Von „nicht einrosten“ über „was gegen die Rückenschmerzen tun“ bis hin zu „Spaß haben und zusammen lachen“ ist alles dabei.

Vielfältige Strategien gegen Einsamkeit

Zwischendurch kommen immer wieder andere Bewohner*innen oder Mitarbeitende vorbei, manche bleiben für eine kurze Unterhaltung. Ein Mann schaut freundlich vom Balkon des zweiten Stockwerks hinunter und ruft seinen sportelnden Mitbewohner*innen ab und zu ein paar motivierende Worte zu. „Das macht er jedes Mal“, verrät Melodía lächelnd. Insgesamt herrscht ein lebendiger Austausch – einigen ist er sogar zu lebendig, sodass sie sich vorzeitig verabschieden und in die Ruhe ihrer Wohnbereiche zurückziehen. Aber auch das ist in Ordnung. „Das Angebot ist freiwillig und alle machen nur so viel, wie sie möchten“ betont die Trainerin.

Im Gespräch mit den Teilnehmenden wird deutlich, dass die gemeinsame Bewegung eine wichtige, aber längst nicht die einzige Strategie gegen Einsamkeit ist. So berichten die Älteren, wie gern sie in das tagesstrukturierende Angebot Café Olé im Hilda Heinemann Haus gehen, wo sie zusammen mit Rentner*innen aus anderen Einrichtungen Frühstück und Mittag essen, Ausflüge machen und kreativ sind. Ein jüngerer, noch berufstätiger Teilnehmer ist schon total aufgeregt, weil er am Samstag wieder in die inklusive Disco geht. Und die 69-jährige Brigitte Strenge schwärmt noch immer von der Rockband Santiano, zu deren Konzert in Bad Segeberg sie zusammen mit einer Gruppe gefahren ist.  Mit dem regelmäßigen Training an der Bewegungsinsel halten sich Brigitte und viele andere nicht zuletzt auch fit, um weitere Dinge zu unternehmen, die ihnen Freude machen.

Inklusiver Gesundheitstag – jetzt anmelden

Wie können wir mehr gemeinsam machen? Weitere Ideen und Anregungen für Menschen mit und ohne Behinderung gibt es beim inklusiven Gesundheitstag „Gemeinsam gegen Einsamkeit“ am 5. November 2014 von 10 bis 16 Uhr im Bürgersaal Wandsbek. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung ist noch bis zum 30. September möglich.

Weitere Informationen und Anmeldung zum inklusiven Gesundheitstag „Gemeinsam gegen Einsamkeit“

Mehr Informationen zur Bertelsmann-Befragung: Wie einsam sind junge Erwachsene im Jahr 2024?

Einsamkeitsbarometer 2024 des Bundesfamilienministeriums

 

Kati Imbeck/Sozialkontor