Teilhaben und genesen

Gemeinsam auf dem Weg: Menschen mit psychischer Erkrankung begleiten. Einblicke in den Alltag der Assistenz in der Sozialpsychiatrie.


Andrea Meimerstorf sieht auf die Uhr ihres Handys. »Schon gleich halb elf«, sagt die 55 Jahre alte Erzieherin und Soziologin und überquert mit zielstrebigen Schritten einen Zebrastreifen im Stadtteil Eimsbüttel. Passend zum Hamburger Schmuddelwetter trägt sie einen dunkelgrauen Mantel, in ihrem Rucksack steckt ein Regenschirm. Diese Arbeitsausrüstung hat sich bewährt, denn als Assistenzkraft beim Sozialkontor ist sie viel unterwegs. Ihre Aufgabe: »Ich unterstütze Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei, ihren Alltag in den eigenen vier Wänden und darüber hinaus eigenständig zu meistern und ihre persönlichen Ziele selbstbestimmt zu verwirklichen.« Assistenz in der Sozialpsychiatrie (kurz: ASP) nennt sich diese soziale Leistung, die in der Regel von Sozialpädagog*innen, Sozialarbeiter*innen oder Erzieher*innen erbracht wird.

Sie ermöglicht es Menschen mit psychiatrischen Diagnosen – etwa Depression, Angst- oder Zwangsstörungen, Psychosen, Schizophrenien oder Persönlichkeitsstörungen –, ihre Lebenssituation zu stabilisieren. Auch Sybille Ebert, bei der Andrea Meimerstorf heute einen Hausbesuch macht, ist durch schwierige Zeiten gegangen. Sie leidet an Depressionen und chronischen Schmerzen. Nach sieben Jahren mit Assistenz geht es ihr mittlerweile deutlich besser. Die 51-jährige Frau mit Brille und blonder Bobfrisur steht am Fenster im Hochparterre eines roten Backsteinhauses und raucht. »Guten Morgen, ich warte schon auf Sie«, ruft sie Andrea Meimerstorf freundlich zu und verschwindet in der Wohnung.

Psychische Erkrankung kann Existenz bedrohen

Kurz darauf geht der Türsummer. Im Arbeitszimmer bietet sie der Mitarbeiterin des Sozialkontors einen Platz an und fängt an zu reden. Andrea Meimerstorf hält Blickkontakt, hört zu, nickt verständnisvoll, stellt Fragen. Einen Großteil ihrer Arbeitszeit verbringen die Assistenzkräfte des Sozialkontors mit Vor-Ort-Terminen zu Hause bei den Menschen, die sie unterstützen. Diese sogenannte aufsuchende Arbeit in der Häuslichkeit ist wichtig, denn nicht selten wirkt sich die psychische Erkrankung auch auf die Wohnsituation aus – oder bedroht sogar die Existenz. »Wenn wir eine Begleitung beginnen, kommt es mitunter vor, dass der Briefkasten überquillt, weil die Person Angst hat, ihre Post zu öffnen«, berichtet Antje Heimbach, Sozialpädagogin und Leitung des Treffpunkts Hamburg Mitte des Sozialkontors, in dem Andrea Meimerstorf beschäftigt ist. Kommen dann beim gemeinsamen Sichten der Briefe Mahnungen oder Räumungsklagen zum Vorschein, werden ihre Mitarbeitenden so schnell wie möglich aktiv, stellen zum Beispiel den Kontakt zum Fachamt für Wohnungsnotfälle oder zu einer Schuldnerberatung her und gehen mit zu den Terminen.

Gerade bei schweren Erkrankungen wie Psychosen oder bipolaren Störungen ist es zudem oft nötig, die Menschen dabei zu unterstützen, mit ihrer Krankheit zu leben. »Wir achten darauf, dass sie ihre Medikamente nehmen und wichtige Arzttermine einhalten, da ein Absetzen von Medikamenten zu akuten psychischen Krisen führen kann«, erklärt Antje Heimbach. Häufig müssen die Betroffenen auch zunächst erst mal einen Facharzt oder eine Fachärztin finden, was eine große Herausforderung ist und ebenfalls von den Mitarbeitenden des Sozialkontors begleitet wird. Sybille Ebert muss aufgrund ihrer Erkrankungen regelmäßig Medikamente nehmen und verschiedene Fachpraxen aufsuchen. Ein Thema, das sie auch heute beschäftigt, da sie sich bei einer neuen Ärztin nicht wohlfühlt. Gemeinsam mit Andrea Meimerstorf überlegt sie, was sie an der Situation ändern kann – und bittet die Sozialkontor-Mitarbeiterin schließlich, sie beim nächsten Termin in die Praxis zu begleiten. Das kann bei der Lösung dieses akuten Problems hilfreich sein.

Grenzen wahren bei der Assistenz in der Sozialpsychiatrie 

»Grundsätzlich verfolgen wir aber das Ziel, dass Frau Ebert so stabil wird, dass ich in absehbarer Zeit ganz überflüssig bin«, betont Andrea Meimerstorf. In Absprache mit Sybille Ebert vereinbart sie jetzt schon Termine in immer größeren Abständen, um sie langsam ganz auslaufen zu lassen. Damit das gelingt, muss die Assistenz von Beginn an professionell ablaufen. »In unserem Job ist es wichtig, Grenzen zu wahren – denn häufig haben die Menschen, mit denen wir arbeiten, wenig soziale Kontakte«, sagt Treffpunkt-Leitung Antje Heimbach. Dafür sei es zum Beispiel ratsam, beim höflichen »Sie« zu bleiben und den Menschen stets klarzumachen, dass es sich bei der Unterstützung durch das Sozialkontor um professionelle Hilfe handelt – und keine Freundschaft. Eine Gratwanderung, denn gleichzeitig ist eine gewisse Nahbarkeit oft eine Voraussetzung, um überhaupt ein Vertrauensverhältnis herzustellen.

Dabei kann es hilfreich sein, auch mal persönliche Dinge von sich preiszugeben. Nur eben nicht zu persönlich. »Ich habe auch eine Katze« ist Antje Heimbach zufolge etwa ein Beispiel für eine Aussage, in der man etwas von sich preisgibt, ohne zu viel zu sagen – und so zum Beispiel gut professionelle Nähe zu Katzenhalter*innen schaffen kann. Da das selbst für erfahrene Profis nicht immer leicht ist, müssen die Mitarbeitenden sich und ihr Handeln stets reflektieren. Auch eigene Probleme und Denkmuster spielen dabei eine Rolle. Um darüber zu sprechen, treffen sich die rund zehn Kolleg*innen des Treffpunkts Hamburg Mitte alle zwei Wochen zu Fallbesprechungen, haben zehnmal im Jahr Supervision und regelmäßigen fachlichen Austausch. »Dabei erfahre ich viel über mich selbst und nutze das auch für meine persönliche Weiterentwicklung«, erklärt Andrea Meimerstorf.

Papiere wegsortieren – aber nicht heute

Trotz der 16 Jahre, die sie bereits beim Sozialkontor arbeitet, begegnen auch ihr immer wieder herausfordernde Situationen: »Zum Beispiel, wenn ich jemandem in seiner Wohnung mehrere Stunden beim Aufräumen und Papieresortieren assistiert habe und beim nächsten Termin wieder alles so chaotisch ist wie vorher.« Ebenfalls frustrierend findet sie es, wenn die Menschen, mit denen sie arbeitet, sich wiederholt nicht an Absprachen halten. »Da geht es dann auch darum, den Frust auszuhalten, mich dem Tempo meines Gegenübers anzupassen und darauf zu achten, dass ich ihm nicht meine Ansprüche überstülpe«, so Andrea Meimerstorf. Auch in Sybille Eberts Arbeitszimmer stapeln sich Papiere, die sie gerne wegsortieren würde. Aber nicht heute. »So, Frau Meimerstorf, jetzt brauche ich meine Ruhe«, sagt sie eine Viertelstunde vor dem offiziellen Ende des Termins. Und auch das ist vollkommen in Ordnung – schließlich entscheidet sie selbst, wie und in welchem Umfang sie unterstützt werden will. Andrea Meimerstorf verabschiedet sich und hat etwas mehr Zeit, sich auf den nächsten Termin vorzubereiten

Kati Imbeck