Marie-Claire Bretschneider hat ein Ziel. „Ich will so normal leben wie möglich“, sagt die junge Frau, die seit einem Schlaganfall vor zehn Jahren halbseitig gelähmt ist. Was genau das für sie bedeutet und welche Etappen auf dem Weg dorthin wichtig sind, macht sich die 27-Jährige mithilfe von „MeinNavi“ bewusst – dem neuen Instrument für die wirkungsorientierte Assistenzplanung im Sozialkontor.
Es ist ein sonniger Herbstmorgen. Marie-Claire Bretschneider sitzt im Gemeinschaftsraum von „Wohnen am Frankenberg“, einem Angebot des Sozialkontors für Menschen mit Behinderung. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein farbig bedruckter Papierplan, über den sie mit der rechten Hand eine orangeweiße Pappfigur navigiert, die aussieht wie die Pins auf digitalen Landkarten. In der Mitte des Plans befinden sich sieben Felder, auf denen Fragen und Denkanstöße stehen, etwa: „Meine 3 wichtigsten Ziele“, „Was sind meine Stärken, Fähigkeiten und Interessen?“ oder „Welche Personen oder Dinge können mich gut unterstützen?“. Kommt die Figur auf einem Feld zum Stehen, spricht Marie-Claire Bretschneider über das darauf stehende Thema mit ihrer Assistentin, der Sozialpädagogin Sabine Witthöft.
MeinNavi im Alltag
Die beiden Frauen erproben gerade die individuelle Assistenzplanung mit MeinNavi, die das Sozialkontor ab 2024 einführt. Auch an der Entwicklung des neuen Instruments hat Marie-Claire Bretschneider aktiv mitgewirkt. „Ich war bei zwei Treffen dabei, bei denen wir in kleinen Gruppen über das Konzept diskutiert und Verbesserungen vorgeschlagen haben“, berichtet sie.
Im Zuge des Praxistests arbeitete sie mit MeinNavi heraus, dass sie eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement machen will, sehr sicher mit dem Computer umgeht und mit ihrer Mutter eine engagierte Unterstützerin an ihrer Seite hat. Damit das mit der Ausbildung am ersten Arbeitsmarkt klappt, nimmt sich Marie-Claire Bretschneider vor, mithilfe von Assistenzkräften und Therapeut*innen bestimmte Dinge zu trainieren, etwa deutlicher zu sprechen oder alleine mit dem Bus zu fahren. Bei der Assistenzplanung kommen verschiedene Methoden zum Einsatz, von der Biografiearbeit bis hin zur Visualisierung des sozialen Umfelds auf sogenannten Netzwerkkarten.
Raum zum Rumspinnen
„MeinNavi ermöglicht einen leichteren Zugang zu den eigenen Problemen, aber auch zu Ressourcen, mit denen man zum Beispiel aus Krisensituationen wieder herauskommen kann“, sagt Stefan Kohlmann. Der Nutzer der Assistenz in der Sozialpsychiatrie im Treffpunkt Hamburg Mitte des Sozialkontors war ebenfalls Mitentwickler von MeinNavi.
Dabei stieß er auch mal an seine Grenzen. Vor allem die weit gefasste Eingangsfrage „Wie soll meine Zukunft aussehen?“ bereitete dem 63-Jährigen Kopfzerbrechen. „Konkrete Aufgaben abzuarbeiten, würde mir leichter fallen“, betont er. Doch die offene Formulierung ist durchaus beabsichtigt, um den individuellen Willen zu erkunden. „Wir wollen keine äußeren Erwartungen an die Nutzer*innen herantragen, sondern ihnen bewusst Raum zum Rumspinnen geben“, sagt Stefan Kohlmanns Assistentin, die Pädagogin Lucia Safa. Das dürften dann auch mal Träume wie „Ich will im Lotto gewinnen“ sein.
Wie wirkt das?
Darüber hinaus bietet MeinNavi die Möglichkeit, die Wirkung der Assistenzleistungen des Sozialkontors systematisch auszuwerten. Dafür kommt nach sechs Monaten und nach einem Jahr die Rückseite des Plans zum Einsatz. Dort steht auf den Feldern etwa: „Habe ich meine Ziele erreicht?“, „Was hat mir dabei geholfen oder mich daran gehindert?“ und „Was hat sich dadurch in meinem Leben verändert?“. „Dabei kann es auch ein positives Ergebnis sein, wenn Nutzer*innen Ziele verwerfen – etwa, weil sich ihre Lebenssituation verändert hat“, betont Anna Meins, Fachreferentin Eingliederungshilfe beim Sozialkontor und Mitglied der Steuerungsgruppe MeinNavi. Wichtig sei daher vor allem der Prozess der Auseinandersetzung und Reflexion. „Dadurch können Angebote der Assistenz fortlaufend angepasst werden, um so individuelle Handlungsspielräume und Chancen der Teilhabe zu erweitern.“
Vom Konzept zum Instrument
„MeinNavi“ ist in einem gemeinschaftlichen Prozess entstanden, an dem neben zehn Mitarbeitenden aus allen Bereichen des Sozialkontors auch sieben Nutzer*innen aktiv mitwirkten. Startschuss war im Frühjahr 2022, seitdem ist aus der Idee zuerst ein Konzept und dann ein fertiges Instrument für die wirkungsorientierte Assistenzplanung geworden.
Die Nutzer*innen haben unter anderem dafür gesorgt, dass die Texte von „MeinNavi“ leicht verständlich sind. Besonders hilfreich fanden die Entwickler*innen auch einen Rollentausch: Nutzer*innen befragten Mitarbeitende nach ihren Zielen und gaben ihnen Tipps, wie sie diese umsetzen können. „Das verdeutlichte uns Assistenzkräften, wie wichtig es ist, dass wir uns zurückhalten und die Nutzer*innen herausfinden, was ihr Wille ist“, so Lucia Safa.
Aktuell sind Nutzer*innen und Mitarbeitende damit beschäftigt, MeinNavi in der Praxis zu erproben. Bis Ende 2023 lernen alle Assistenzkräfte des Sozialkontors in Schulungen, wie sie das neue Instrument anwenden. Ab Januar 2024 soll es dann das bisherige Instrument der individuellen Assistenzplanung ablösen – und zwar in allen Bereichen: der Arbeit mit Menschen mit Lernbehinderung, mit Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit Menschen mit erworbenen Hirnschäden.
MeinNavi erfüllt die Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und setzt die Grundsätze der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) um. Eine zweijährige Begleitforschung in Kooperation mit der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie (Stiftung Das Rauhe Haus) prüft, ob sich durch die Einführung von MeinNavi die selbstbeurteilte Lebensqualität von Nutzer*innen positiv verändert.
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