Erst zur Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, dann gleich weiter zu einer Sitzung – Frederic Goertz hat heute ein straffes Programm. Doch das stört den 36-Jährigen nicht, der sich nach Feierabend als Mietersprecher von Wohnen mit Assistenz Farmsen-Berne des Sozialkontors engagiert. „Ich berate meine Mitbewohner*innen, wenn sie Probleme haben“, sagt er. „Wenn uns etwas stört, spreche ich mit den Assistent*innen – und die geben es dann an den Vermieter weiter.“ So sorgte er unter anderem dafür, dass sein Wohnhaus jetzt eine gut sichtbare, beleuchtete Hausnummer hat.
Für heute hat Frederic Goertz noch eine andere Aufgabe: Als Moderator wird er durch das zweistündige Gesamttreffen der Interessenvertretungen – also der Wohnbeiräte, Mieter- und Treffpunktsprecher*innen – der Angebote des Sozialkontors führen. Allmählich füllt sich der Raum, bis 16 Teilnehmende, drei Gäste und fünf Unterstützer*innen in einem Halbkreis sitzen. Ein Teilnehmer ist online per Video zugeschaltet. Pünktlich um 16 Uhr geht es los, Frederic Goertz stellt die Tagesordnung vor. Auf der Agenda stehen die Themen Inklusionsbeirat, Öffentlichkeitsarbeit und Assistenzplanung.
Die Anwesenden sind nur ein kleiner Teil der Interessenvertretung im Sozialkontor. Insgesamt etwa 60 Engagierte machen sich stark für die Belange der rund 1.100 Menschen, die die Wohn-, Assistenz- und Bildungsangebote des sozialen Dienstleistungsunternehmens nutzen. Sie werden alle zwei bis vier Jahre demokratisch gewählt. Wann genau, ist von Standort zu Standort verschieden.
Veränderungen anstoßen
Einer von ihnen ist Timo Berdien. Er wohnt im Senator-Neumann-Haus, einem Wohnangebot des Sozialkontors für Menschen mit komplexen Behinderungen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder aufgrund von Erkrankungen wie Multipler Sklerose. Als Vorsitzender der insgesamt vier Wohnbeiträte in dem Haus vermittelt er zwischen den Bewohner*innen und der Einrichtungsleitung.
Sich für andere einsetzen – das hat der heute 45-Jährige auch früher schon gemacht, etwa als Klassensprecher auf der Realschule. „Jetzt stoße ich hier Veränderungen an“, sagt er. Ein Thema, das ihm sehr am Herzen liegt, sind regionale Produkte bei der Verpflegung im Haus. „Ich will Äpfel aus dem Alten Land, nicht aus Neuseeland.“ Das sei zwar aufgrund langfristiger Verträge nicht immer sofort möglich. „Aber immerhin konnten wir erreichen, dass auf dem Grundstück jetzt heimische Beerensträucher angebaut werden“, sagt er.
Die Mahlzeiten sind auch beim Wohnbeirat des Haus Beerboom, in dem ebenfalls Menschen mit komplexen Behinderungen wohnen, immer wieder Thema. Darüber hinaus beschäftigen sich die vier Mitglieder bei ihren monatlichen Treffen mit vielen weiteren Anliegen und Aufgaben. So setzt sich der gebürtige Bayer Bernhard Böck mit Nachdruck dafür ein, dass die Bewohner*innen dieses Jahr einen Gemeinschaftsausflug aufs Wasser machen. „Eine Dampferfahrt über die Elbe oder eine Tour mit dem Schiff auf der Ostsee wäre toll“, sagt der 45-Jährige. Und seine Mitstreiterin Abier Herms-Knake vertritt auch mal die Einrichtungsleitung bei repräsentativen Aufgaben. „Ich halte beim Sommerfest die Rede zur Feier des 10. Jubiläums des Hauses“, so die 57-Jährige.
Austausch mit anderen Interessenvertreter*innen
Organisatorische Unterstützung bekommen die Interessensvertreter*innen im Sozialkontor von zwei Mitarbeiterinnen: Der Fachverantwortlichen Nicola Dettmer sowie der Koordinatorin für die Treffpunkte Frauke Laufer. Darüber hinaus stehen ihnen vier Freiwillige sowie fünf speziell geschulte ehrenamtliche Ombudspersonen zur Seite, die zum Beispiel zu Besprechungen einladen oder Protokoll führen – unter anderem auch bei den vierteljährlichen Zusammenkünften aller Treffpunktsprecher*innen und beim Gesamttreffen, das zweimal im Jahr stattfindet.
Hier bekommen die Interessenvertreter *innen Einblicke in übergeordnete Themen, die einige von ihnen in einer Arbeitsgruppe gemeinsam mit zwei Ombudspersonen festlegen. Vor allem schätzen sie aber den Austausch miteinander, bei dem sie erfahren, was die anderen gerade umtreibt. So kritisiert eine Mietersprecherin die Bezeichnung „Wohnen mit Assistenz“ für ihre Wohnform. „Das versteht doch keiner, da nenne ich lieber die Straße und Hausnummer“, sagt sie. Und ein Treffpunktsprecher berichtet, dass er dagegen protestieren will, dass bestimmte E-Rollstühle von der Beförderung im öffentlichen Nahverkehr ausgeschlossen sind.
Engagement in Inklusionsbeiräten
Letzteres ist auch ein Thema für einen der fünf Inklusionsbeiräte in Hamburg, in denen sich einige der Interessensvertreter*innen ebenfalls engagieren. So ist Olaf Jürs, der Mietersprecher des Sozialkontor-Angebots Wohnen mit Assistenz Boberg, auch Mitglied des in diesem Jahr neu gegründeten Inklusionsbeirats Bergedorf. Er schätzt es, sich mit anderen behinderten Menschen in seinem Bezirk zu vernetzen und Veränderungen anzuschieben. Zu tun gibt es genug: „Ich setze mich dafür ein, dass Moia auch Fahrten nach Bergedorf anbietet“, betont der 58-jährige Rentner. Außerdem fordert er, dass mehr Busfahrer*innen aufstehen, um die Rampe für Rollstühle auszuklappen und Fahrradfahrer*innen auf dem Fußweg absteigen.
Auch Frederic Goertz sitzt im Inklusionsbeirat Wandsbek. Neben der Motivation, sich politisch zu engagieren, treiben ihn vor allem auch persönliche Gründe an: „Für mich ist das wie ein Hobby, bei dem ich Leute treffe, mich unterhalte und – vor allem – zuhöre.“